Donnerstag, 21. Januar 2016

Der Regenprinz - ein äthiopisches Märchen

Was gibt es Schöneres, wenn es draussen kalt ist, als sich in die warme Stube zu setzen und den Geschichten zu lauschen, die Grossvater auf dem Ofenbänkli sitzend und an seiner Pfeife schmauchend so gerne erzählt. Draussen ist es dunkel und man fühlt sich geborgen in der guten Stube. Die Katze schnurrt behaglich und der Hund wackelt im Schlaf mit den Ohren. Geschichten gehören zum Kulturgut eines Volkes, sie machen einen Teil der Identität aus. Und Kultur muss gepflegt werden. Dazu braucht es Zeit. Uns scheint, dass für viele von uns das Zeit haben und Zeit nehmen - und sei es auch nur um einen Kaffee zu geniessen - je länger je schwieriger wird. Und wenn wir es der Natur nachmachen würden und das Leben im Winter etwas ruhiger nähmen?


Geschichten gibt es überall auf der Welt, so auch in der äthiopischen Region Kaffa. Während wir uns hier - zumindest viele von uns - Schnee wünschen, wünscht man sich auf dem afrikanischen Kontinent oft Regen. In der folgenden Geschichte kann ein Prinz helfen. Vielleicht bräuchten wir einen Schneeprinzen?


Der Regenprinz

Es war einmal, vor langer, langer Zeit, da lebte in einer Hütte, zuhinterst im äthiopischen Wald, wo sich fast nie eine Menschenseele verirrte, ein Mann mit seinem Sohn. Früher mal hatte der Mann eine Ehefrau, diese war aber bei der Geburt ihres ersten Sohnes gestorben. Sein Kummer war so gross, dass er sich entschied, nicht mehr unter den Menschen zu leben. Er wollte alleine mit seinem Kummer und seinem Sohn Devi sein.
Eines Morgens drang er deshalb tief in den Urwald und baute eine einfache Hütte. Devi wuchs ohne andere Kinder auf. Sein Vater brachte ihm alles bei, was es zum Leben brauchte: laufen, reden, jagen und fischen, aber leider traf Devi dabei keine andere Menschenseele.
In diesem verlorenen Winkel des Waldes sah er höchstens mal in weiter Ferne einen verirrten Wanderer. Glücklicherweise verstanden sich Vater und Sohn gut. Der Vater von Devi war ein gutmütiger und sanfter Mann der seinen Sohn sehr liebte. Er war auch sehr stolz auf ihn, denn aus dem Jungen wurde ein ausgesprochen schöner, junger Mann der mit Leichtigkeit alles verinnerlichte, was sein Vater ihm beibrachte.
Im Jahr in dem Devi 18 Jahre alt wurde brach eine schlimme Dürre über das nachbarliche Königreich. Seit über einem Jahr schon war kein Regen mehr gefallen und alle Menschen fingen an, sich ernstlich Sorgen zu machen. Die Bauern beklagten sich über ihre trockenen Felder und das Wasser im Fluss reichte nicht mehr, um den Durst aller Bewohner, der Tiere und der Felder zu stillen. Die Hungersnot würde nicht lange auf sich warten lassen und das ganze Land knechten.
Der König war hoffnungslos. Er hatte mehrere Weise rufen lassen, um ihn zu beraten.
Der eine sagte:

- Jeder, der einen Esel hat, soll einmal pro Tag zwei Säcke Wasser im Meer holen, um die Felder zu bewässern.
Ein anderer antwortete:
- Nein, Sire, das geht nicht, denn das Meerwasser ist nicht gut für die Pflanzen. Sie würden nicht nur vor Trockenheit sondern auch vor zuviel Salz zugrunde gehen.
Wieder ein anderer schlug vor, alle Tiere aus dem Land zu vertreiben, damit es genug Trinkwasser für Mensch und Kulturen habe, aber der König wies auch diesen Vorschlag zurück.
Keine der vorgeschlagenen Ideen überzeugte. Es musste ganz einfach klares, frisches Regenwasser vom Himmel fallen, damit das ganze Land wieder genug hatte.
- Sire, es gibt nur eine einzige Lösung, sagte ein sehr alter und sehr weiser Berater. Wir müssen einen jungen Mann finden, rein und ganz, einen jungen Mann der noch nie jemandem etwas Schlechtes getan hatte und der nur Gutes im Sinn habe. Wenn wir ihn nach Anga bringen, wird es regnen.
Die anderen Berater nickten mit dem Kopf. Da einzig echter Regen den König zufrieden stellen konnte, war dies die beste Lösung.
Nur ein reiner junger Mann konnte die Wettergötter besänftigen. Das war eine jahrhunderalte Wahrheit; nur musste dieser noch gefunden werden!
In Anga wimmelte es nur so von jungen Menschen, aber keiner von ihnen war makellos rein an Körper und Geist.
Ich kenne jemanden, sagte da ein Berater der bisher geschwiegen hatte und strich sich über den langen, weissen Bart. Es war ein Mann der aus dem gleichen Dorf stammte wie Devis Vater und die Geschichte von Vater und Sohn kannte. Er erzählte sie dem König und den anderen Beratern.
- Ich befürchte allerdings, sagte er entmutig, dass sein Vater niemals damit einverstanden sein wird, dass wir seinen Sohn nach Anga bringen.
Der König überlegte eine Weile mit ernster Miene. Plötzlich hellte sich sein Gesicht auf.
- Ich kenne ein Mittel, um diesen jungen Mann nach Anga zu bringen, sagte er lachend. Habt ihr denn vergessen, dass ich eine Tochter habe? Sie ist die schönste des ganzen Landes und zudem sehr intelligent. Wenn ich ihr das Problem erläre, wird sie ihr Bestes geben und ich zweifle keinen Augenblick, dass sie es nicht schaffen wird, den jungen Mann zu überzeugen sie zu begleiten.
Gesagt, getan. Der König sprach unverzüglich mit seiner Tochter, die die Idee amüsant fand, mit dem Einverständnis ihres Vaters einen netten Jungen zu bezirzen.
- Ist es sehr schön? fragte sie neugierig.
- Das wirst Du selber sehen, antwortete der König ungeduldig. So oder so, du musst ihn nicht heiraten. Die Prinzessin zog es vor, nicht darauf zu antworten und fing unverzüglich an, ihre Koffer für diese lange Reise zu packen. Der Berater erklärte ihr, wo und in welchem Waldstück sie den jungen Mann suchen müsse.
- Gib acht, dass nur er dich bemerkt, denn wenn sein Vater dich entdeckt, wird unsere List nicht gelingen! riet ihr der Weise, als die Prinzessin bereits auf dem Pferd sass. Sein einziger Wunsch ist in Frieden mit seinem Sohn im Wald zu leben.
Nach einer langen, mühseligen Reise kam die Prinzessin endlich zum Waldrand in dem Devi und sein Vater lebten. Die Prinzessin stieg von ihrem Pferd, zog ihr schönstes Kleid an und schlängelte sich durch die dichte Vegetation bis in den hintersten Winkel des Waldes. Plötzlich hörte sie Stimmen. Schnell versteckte sie sich hinter einem grossen Baumstamm. Gerade rechtzeitig, denn Devis Vater schickte sich an, im Wald nach Früchten zu suchen. Er wand sich an seinen Sohn.
- Ich werde vor Sonnenuntergang zurück sein, hörte die Prinzessin ihn sagen. Bis dahin, reinige bitte die Hütte und setze den Wasserkessel aufs Feuer.
Mit diesen Worten verschwand er. Die Prinzessin wartete zur Sicherheit einen Augenblick und schlich dann federnden Schrittes zur Hütte. Im Innern hörte man den Besen der über den Boden wischte. Der junge Mann war tatsächlich folgsam und beherzt.
- Hallo! sagte die Prinzessin vorsichtig.
Der Kopf eines jungen Mannes mit einem braunen Lockenschopf erschien in der Türöffnung und starrte sie überrascht aus strahlenden Augen an. Wie schön er doch war! Noch nie hatte sie einen so schönen und liebenswerten jungen Mann gesehen. Die Prinzessin errötete bis zu den Haarwurzeln. Auch Devi war berührt. Er hatte noch nie eine andere Menschenseele gesehen und kannte nur seinen Vater. Wer war diese merkwürdige Person auf der Türschwelle?
Bewundernd schaute er in das feine Gesicht, sein Blick glitt über die langen, gelockten Haare und das prächtige Gewand unter dem zwei kleine Füsse hervorschauten.
- Wer seid Ihr? fragte er höflich, denn sein Vater hatte ihm gute Manieren beigebracht.
-  Mein Name ist Eleni und ich komme aus Anga, antwortete die Prinzessin schüchtern. Und Ihr, wer seid Ihr? Devi stellte sich ebenfalls vor. Er bot der Prinzessin Speis und Trank und sie redeten den ganzen Nachmittag wie alte Bekannte. Die Prinzessin kannte eine ganze Serie von Spielen an denen Devi sich voller Freude beteiligte. Sie lachten und verfolgten sich. Sie spielten Verstecken und "Hallo, hier bin ich" und flochten Blumenkränze für die Haare. Der Abend kam viel zu schnell für ihren Geschmack.
- Ich muss gehen, sagte die Prinzessin erschrocken als die Sonne hinter den Baumwipfeln verschwand. Stellt euch vor! Devis Vater würde bald heimkehren und würde sich nicht sehr über ihren Besuch freuen. Sie hob die Röcke hoch und verschwand geschwind im Schatten der Bäume.
- Warte! Mein Vater kommt bald nach Hause. Du kannst ihn kennenlernen, rief ihr Devi hinterher, aber es war schon zu spät, die Prinzessin war bereits verschwunden.

Devi war ganz durcheinander. Er wäre der Prinzessin gerne gefolgt, aber das war nicht möglich, denn sein Vater würde sich Sorgen machen. Auf der anderen Seite aber fühlte er sich unheimlich einsam, ohne Prinzessin. Als sein Vater hörte, was passiert war, wusste er sofort, dass eine Frau Devi besucht hatte.
- Sieh dich vor, warnte er ihn. Wenn das so weitergeht, wird sie dich mitnehmen, weit weg von hier. Wer weiss, wo Du Dich wiederfindest.
Einige Tage später musste Devis Vater wieder in den Wald, um die Vorräte aufzustocken. Er mahnte seinen Sohn erneut vor dem Mädchen aber kaum war sein Vater ausser Sichtweite vergass Devi die Mahnung. Seit mehreren Tagen schon beobachtete die Prinzessin hinter einem grossen Baum das Geschehen bei der Hütte und nun konnte sie sich endlich wieder hervorwagen. Devi war verrückt vor Freude, er nahm sie in seine Arme und bot ihr allerlei Köstlichkeiten an.
Sie fingen wieder an zu spielen. An diesem Nachmittag erzählte Eleni ihm auch von der fürchterlichen Dürre, die ihr Land heimsuchte. Sie erwähnte auch, dass er der einzige sei, der Regen bringen könne.

- Aber dazu musst du mich nach Anga begleiten, sagte sie ihm zärtlich. Wenn du hier bleibst, wirst du nichts für unser Land tun können.
Mein Vater wird sich Sorgen machen, wenn ich bei seiner Rückkehr nicht da bin, antwortete Devi zögernd. Ich muss warten bis er zurück ist, um es ihm zu erklären.
Aber Eleni wollte davon nichts hören. Stellt euch vor! Wenn sein Vater im verböte, sie zu begleiten hätte sie all das vergebens unternommen.
Wenn du willst, darfst du mich heiraten, sagte sie, um ihn zu ködern. Ich liebe dich und ich fühle, dass auch du mich liebst. Du wirst reich und berühmt. Sobald es in Anga regnet, werden wir zurückkommen und deinen Vater holen und du wirst dich um ihn kümmern können so viel du willst, viel besser noch als du es je hier in dieser Hütte könntest. Bitte, gehen wir. Jetzt!
Das Herz von Devi schmolz als er in die flehenden Augen der Prinzessin sah. Er sammelte seine mageren sieben Sachen und folgte der Prinzessin.
Kaum setzte Devi seinen Fuss ins Königreich Anga, fing es wolkenbruchartig an zu regnen. Alle Bewohner des vertrockneten Landes strömten aus ihren Hütten und dankten auf den Knien dem Himmel, ihnen dieses reine, klare Wasser zu schicken. Die Flüsse schwollen wieder an und die Pflanzen hoben die Köpfe. Der König war überglücklich, denn das Unglück war abgewendet. Er wollte Devi danken und ihm einen grossen Sack voll Gold schenken, aber als er sah, wie seine Tochter und der junge Mann sich ansahen, gab er ihm ihre Hand. Nirgendwo sonst hätter er einen besseren Schwiegersohn finden können. Mit grossem Aufwand wurde die Hochzeit im ganzen Land gefeiert. Der König sand Boten aus, um Devis Vater zu holen und als dieser sah, wie glücklich sein Sohn mit der Prinzessin war, umarmte er seine neue Schwiegertochter und wünschte den beiden alles Glück der Erde. Devi brachte seinen Vater ins Schloss, welches der König für das junge Paar hatte bauen lassen.
Seit diesem Tag gab es im Königreich Anga keinen Trockenheit mehr und es wurde das fruchtbarste Land Afrikas.



In anderen Sagen fliehen infolge einer durch Dürre verursachten Hungersnot viele Familien aus Ägypten und entdecken (und bevölkern) nach einer langen und beschwerlichen Reise Äthiopien. Auch andere Sagen erwähnen Äthiopien als das fruchtbarste Land Afrikas. Weitere Sagen und typische Erzählungen aus der Region Kaffa finden Sie hier. Diese wurden in Bonga gesammelt und aus dem amharäischen ins englische übersetzt, einige davon sind auch sehr philsophischer Natur.


Geschichten lesen oder hören ist nicht nur angenehm in der warmen Stube. Ein ganz besonders gemütlicher Ort dafür ist der Sonntagmorgen im Bett. Apropos Bett: Kennen Sie Storyfabrics? Wir haben eine kleine, aber feine Partnerschaft angezettelt mit diesem Zwei-Frau-Unternehmen, welches in Indien unter fairen Bedingungen Bettwäsche aus ausschliesslich biologischer und Fairtrade-zertifizierter Baumwolle anfertigen lässt. Da macht Zeit nehmen doch gleich doppelt so viel Spass.

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